Der letzte Blick, 20.7.2024
In deinen ratlosen und angsterfüllten Augen spiegelt sich eine ganze Welt – deine Welt …
Ein Leben liegt hinter dir, das vielleicht kaum eines war, geprägt von Entbehrung und Mühsal.
Der Verlust deiner Mutter, gleich nachdem du das Licht der Welt erblickt hattest. Deine Verzweiflung, die fehlende Geborgenheit, dein ängstliches Rufen. Eingesperrt in ein kleines Gefängnis vor dem Stall hast du deine erste Lebenszeit verbracht.
Als du etwas herangewachsen warst, durftest du mit anderen in einen kleinen abgetrennten Bereich – wahrscheinlich war das deine schönste Zeit, es gab noch keinen Spaltenboden; staksig und freudig hast du deine ersten Sprünge in dem weichen Stroh gemacht.
Als du größer wurdest, bist du wieder woanders hingekommen, aber es war immer noch der gleiche Stall. Manchmal hast du die älteren Kühe verzweifelt rufen gehört und eines Tages selbst so verzweifelt gerufen, als man dir dein Kleines gleich nach der ersten Geburt entriss. Vier Mal bist du Mutter geworden, vier Mal ist dein Herz zerbrochen.
Die Tage vergingen und du hast sie ertragen – den Kummer, die Langeweile, die hoffnungslose Sehnsucht nach deinen Kindern und die ungestillte Sehnsucht nach taubenetzten Wiesen mit duftenden Blumen und einem sanften Wind, der über dein Fell streift.
Manchmal wurde eine unter euch aus dem Stall geholt – ihr wusstet nicht warum, und oft geschah es in den frühen Morgenstunden.
Mit den anderen Kühen hast du den Verlust beklagt, es fehlte plötzlich jemand, der vertraut gewesen war und mit dem man das gleiche Schicksal geteilt hatte.
Du konntest es nie verstehen.
Bis zu diesem Tag.
Denn heute Morgen wurdest du herausgeholt und in ein anderes Gefängnis getrieben, das bald schaukelnd den Hof verließ, der dein Zuhause gewesen war. Ein letzter Blick in die liebevollen Augen deiner Gefährten, die zurückbleiben, eine bange Angst, die tief aus deinem Inneren kommt und immer größer wird, je länger die Fahrt dauert. Immer wieder hält der Transporter an, immer wieder werden andere Kühe hineingetrieben. Du kennst sie nicht, sie sind dir fremd. Es wird eng, es wird heiß und deine Angst immer stärker.
Und irgendwann, nach qualvollen Stunden, kommst du an einem Ort an, der deine Angst von einem Augenblick auf den anderen in Grauen verwandelt.
Dein schaukelndes Gefängnis rollt in der Einfahrt zum Schlachthof an mir vorbei. Ich blicke in deine sanften Augen, in denen eine ganze Welt liegt: Dein Leben, das kaum eines war …
R.I.P.
Anlässlich der Mahnwache 'Ein Licht der Hoffnung' am 10 Jahrestag, dem 19. Juli 2024.
Am 21. Juli 2014 fand vor dem Münchner Schlachthof die erste Mahnwache zum Gedenken an die Opfer statt, die hinter diesen Mauern sterben müssen – mitten in München, der Weltstadt mit Herz.
Wo ist das Herz für jene Lebewesen, denen der Mensch den Stempel ‚Nutztiere‘ auferlegt hat?