Die verzauberte Karotte

Der Schnee fiel in dichten Flocken auf das kleine Waldgebiet in den oberbayerischen Bergen. Es war ein Tag vor Weihnachten und wie jedes Jahr freuten sich vor allem die Kinder auf dieses besondere Fest. 

Ein älterer und ein jüngerer Hase hatten sich in der Abenddämmerung gemeinsam auf die Suche nach etwas Essbarem gemacht. Gestern hatte der ältere ein paar Haselnusssträucher am Rande des Waldes entdeckt, deren Rinde recht schmackhaft war. Dorthin wollte er den jungen Hasen führen, denn es war sein erster Winter und er hatte noch keine Erfahrung mit der Futtersuche in der kalten Jahreszeit. Er zeigte ihm auch, wie er unter der dichten Schneedecke Kräuter und Pflanzentriebe in der Erde finden konnte, und welche Baumrinden geeignet waren, um den Hunger zu stillen.

Die Zweige der Tannen trugen schwer an ihrer weißen Last und irgendwo erklang ein letzter leiser Vogelgesang, bevor der Wald im schweigenden Mantel der Dunkelheit versank. Eifrig folgte der junge Hase dem älteren auf dicht verschlungenen Pfaden.


„Schau, hier sind sie“, sagte der Ältere, als sie den Platz erreicht hatten. „Natürlich schmecken die Blätter dieser Sträucher im Frühjahr am besten, aber seine Rinde nährt uns auch und hilft, den Winter zu überstehen.“

Der junge Hase tat es ihm gleich und begann hungrig an einem kleineren Stamm zu nagen. Der Geschmack war ungewohnt, aber dennoch gut. Dankbar sah er zu seinem Gefährten, der ihm aufmunternd zunickte, dann wanderte sein Blick zu einer kleinen Siedlung, die nicht allzu weit vom Waldrand entfernt lag. Der Schnee glitzerte im Schein des Lichts, der aus den Fenstern der Häuser strahlte. Ein paar Gärten leuchteten besonders hell, dort waren die Bäume mit Lichterketten geschmückt und alles sah verzaubert aus.

Auch der junge Hase fühlte sich verzaubert, es war schließlich sein erstes Weihnachten und so einen schönen Lichterglanz hatte er noch nie gesehen. Sehnsuchtsvoll blickte er zu der Siedlung und vergaß sogar seinen Hunger.

„Ich möchte gerne dorthin, wo es so hell ist“, meinte er zu seinem älteren Gefährten.

Der sah ihn kopfschüttelnd an. „Dort wohnen Menschen und es ist besser, sie zu meiden. Sie stellen Fallen auf und schießen auf uns. Man muss sich vor ihnen in Acht nehmen.“

Die Augen des jungen Hasen verdunkelten sich bei diesen Worten. Er konnte sich das gar nicht vorstellen – alles sah friedlich und freundlich aus. Dort sollten Wesen leben, die noch schlimmer als Füchse oder Wölfe waren, vor denen man sich hüten musste?

Entschieden schüttelte er den Kopf, klopfte sich den Schnee von der Brust und hoppelte in seinem jugendlichen Ungestüm drauf los. 

„Bleib hier!“, rief ihm der ältere Hase hinterher. Er stieß einen Seufzer aus. „Hoffentlich geschieht ihm nichts und niemand entdeckt ihn.“


Übermütig war der junge Hase durch den Schnee geflitzt. Als er sich den Häusern näherte, zog ihn eines besonders in seinen Bann, denn es leuchtete noch viel stärker als die anderen. Aber der helle Schein kam nicht nur von den Lichterketten, den leuchtenden Sternen und Figuren in dem Vorgarten, oder aus den Fenstern – es war ein Leuchten, das nur der Hase sehen konnte und all die anderen Lebewesen, deren Herzen noch unschuldig waren und welche eine Welt hinter den Dingen sahen.

Zwischen der glitzernden Figur eines Rehs und einem Schlitten, stand ein Schneemann. Der Hase rieb sich sein Gesicht mit den Pfoten und kratzte sich hinter seinem linken Ohr. War das vielleicht ein Mensch? Er wartete mit klopfendem Herzen, ob er sich bewegte, aber der Schneemann stand ganz still und rührte sich nicht vom Fleck. Schließlich nahm der Hase all seinen jungen Mut zusammen und hoppelte etwas näher heran. Als er die Karotte im Gesicht des Schneemanns entdeckte, wurden seine Augen kugelrund vor Freude. Wann hatte er das letzte Mal eine Karotte gegessen? Sehr lange schien das her.

Auch die blauen Augen des kleinen Mädchens, das am Fenster stand, waren kugelrund geworden. Ein echter Hase! Wie hübsch er war und was war das für ein schönes Bild, ihn inmitten des Weihnachtszaubers und glitzernden Schnees zu sehen. Er sah anders aus als ihr Stoffhase, den sie jeden Abend mit ins Bett nahm. Ganz still stand sie da und wagte kaum zu atmen. Doch plötzlich breitete sich ein freudiges Lächeln auf ihrem schmalen Gesicht aus und dann musste sie kichern. Der Hase hatte einen großen Hüpfer gemacht und sich die Karotte aus dem Gesicht des Schneemanns stibitzt.

Einen Moment blieb er unschlüssig sitzen, mit der großen Karotte in seinem kleinen Maul, dann spurtete er eilig davon zu dem dunklen Wald. 


„Schau mal“, sagte der junge Hase freudestrahlend, als er die Karotte in den Schnee fallen ließ. 

Der ältere Hase war erleichtert, dass sein jüngerer Gefährte wieder zurück war und staunte. Eine Karotte? Um diese Jahreszeit?

„Wo hast du denn die gefunden?“, fragte er verwundert.

„Vor einem Haus, das besonders hell strahlte. Dort war etwas, von dem ich erst dachte, es sei vielleicht ein Mensch, aber es war nur eine Gestalt aus Schnee. In ihrem Gesicht steckte eine Karotte und die habe ich mir geholt. Ich wollte sie mit dir teilen“, fügte der junge Hase hinzu und lächelte den älteren an.

„Du hast ein gutes Herz“, sagte dieser liebevoll.

„Wir haben doch beide Hunger“, meinte er und schob ihm die Karotte hin.

Während sie gemeinsam an ihr knabberten, leuchtete ein Stern am Himmel besonders hell auf und sandte seine goldenen Strahlen zu dem kleinen Wald. Es war der Weihnachtsstern, der immer dann ganz hell wurde, wenn gerade irgendwo auf dieser Erde etwas Schönes aus Liebe und Mitgefühl geschah. Deshalb strahlt er in der Weihnachtszeit oft besonders hell.


Das kleine Mädchen, das Anna hieß, war am nächsten Morgen sehr früh aufgestanden. Sie spürte ein freudiges Kribbeln im Bauch. Heute war Weihnachten! Auch der hübsche Hase aus dem Garten fiel ihr gleich wieder ein. 

Es dämmerte gerade erst, als sich Anna einen dicken Pulli und eine warme Hose anzog und dann hinunter in die Küche schlich, um ihre Eltern nicht zu wecken. Sie öffnete den Kühlschrank, zog das Gemüsefach auf und stieß einen erleichterten Seufzer aus – es waren noch genügend Karotten da. Rasch zog sie ihre Mütze über die roten Haare, nahm vier Karotten heraus und schlüpfte in ihre Fäustlinge.

Es war bitterkalt und der Schnee klirrte unter ihren Stiefeln, als Anna im Garten auf den Schneemann zustapfte. Sie zog den Schlitten heran und stieg vorsichtig hinauf, um dem Schneemann wieder eine Karotte in sein Gesicht zu stecken. Die anderen drei drückte sie in seinen Bauch. 

Anna stieg vom Schlitten und betrachtete den Schneemann zufrieden. Sie war glücklich – fast schien es, als würden die Sommersprossen auf ihrer kleinen Nase vor lauter Freude tanzen. Bestimmt würde sich der Hase sehr freuen, wenn er heute Abend noch mehr Karotten entdeckte und es war ja schließlich Weihnachten, dachte sie. 

Ihre nette Lehrerin aus der ersten Klasse hatte in der Adventszeit viel über das Fest der Liebe erzählt, das einem ganz bestimmten Menschen gewidmet war, der vor langer Zeit auf dieser Welt gelebt hatte, und sie mit seiner Botschaft der Liebe bis heute erhellte. Ihm zu Ehren wurde jedes Jahr Weihnachten gefeiert, hatte die Lehrerin gesagt. Es sollte alle Menschen an die Liebe erinnern und daran, dass diese Liebe auch den Tieren und der Erde gelten sollte. Anna hatte viel über ihre Worte nachgedacht und gefunden, dass sie recht hatte.


Die beiden Hasen hatten sich wieder auf den Weg zu den Haselnusssträuchern gemacht. Der junge Hase hatte seinen Gefährten dazu überredet, denn er wollte wieder zu dem Haus. „Du hattest gestern Glück, dass du keinem Menschen begegnet bist! Das solltest du nicht ein zweites Mal riskieren“, hatte er gemeint.

„Aber du hast mir doch erzählt, dass heute ein Fest der Menschen ist, das sie nur einmal im Jahr feiern und an dem sie fast alle in ihren Häusern sind. Bestimmt wird mich keiner entdecken und wäre es nicht schön, wenn ich wieder eine Karotte für uns finden würde?“, hatte der junge Hase entgegnet und hinzugefügt: „Außerdem hast du gesagt, dass man zu Weihnachten einen Zauber spürt, auch hier im Wald. Ich glaube, ich habe ihn schon gestern gespürt, deshalb habe ich keine Angst. Vielleicht hat die Karotte, die es um diese Jahreszeit eigentlich nicht gibt, auch etwas mit diesem Zauber zu tun?“

Der ältere Hase hatte geseufzt. Er würde es ihm in seinem jugendlichen Ungestüm sowieso nicht ausreden können und wenigsten wollte er in seiner Nähe bleiben.

Kaum hatte der junge Hase seinen Hunger etwas mit der Rinde des Haselnussstrauches gestillt, lief er geschwind davon.


Es war schon dunkel geworden und irgendwo in der Ferne läuteten Kirchenglocken den Heiligen Abend ein. Das Haus, auf das der Hase zulief, schien noch heller als gestern und er fühlte sich wieder ganz verzaubert. Was war das für ein leuchtender Glanz! Als er sich dem Garten näherte, verlangsamte er sein Tempo und hoppelte schließlich vorsichtig zu dem Schneemann. Er traute kaum seinen Augen! Vier Karotten! Vor lauter Freude hüpfte er einmal um den Schneemann.

Auch Anna begann vor Freude zu hüpfen. Ihre Mutter hatte sie vor einer halben Stunde auf ihr Zimmer geschickt und gesagt, dass sie so lange warten müsse, bis das Glöckchen klingelte. Mit dem Kribbeln in ihrem Bauch, das sie schon heute Morgen vor lauter Vorfreude gespürt hatte, war sie geschwind hochgelaufen und hatte sich gleich ans Fenster gestellt, um zu sehen, ob der Hase wiederkommen würde. 

Als sie ihn jetzt sah, lächelte sie über das ganzes Gesicht und ihre blauen Augen strahlten. Sie hüpfte von einem Bein auf das andere, als der Hase die unterste Karotte aus dem Bauch des Schneemanns zog. Einen Moment lang schien er etwas unschlüssig, aber dann nahm er die Karotte zwischen seine Vorderpfoten und begann daran zu knabbern. Freudig klatschte Anna in ihre kleinen Hände. 

Während sie dem Hasen weiter zuschaute und hoffte, dass das Glöckchen noch nicht läutete, wurden ihre Augen auf einmal ganz groß, als sie plötzlich das goldene Licht sah. Auch der Hase schien es zu bemerken, denn er hörte auf, an seiner Karotte zu nagen und blickte zum Himmel. Und dann sahen sie es beide: Es war der Weihnachtsstern, der ganz hell leuchtete und seine funkelnden Strahlen zu dem Garten sandte.

Annas kleines Herz füllte sich mit so viel Liebe, dass sie das Gefühl hatte, es müsste vor lauter Glück gleich zerplatzen. Das Glöckchen klingelte und es fiel ihr schwer, sich von diesem schönen Bild vor ihren Augen loszureißen, doch der Hase nahm jetzt die zweite Karotte, blickte noch einmal zum Himmel und flitzte zum Waldrand zurück. 


Auch der ältere Hase hatte das Licht des Weihnachtssterns gesehen und wusste nun, dass seinem jungen Gefährten nichts geschehen konnte. Im nächsten Moment war er auch schon wieder da und legte ihm freudestrahlend die Karotte vor die Pfoten. „Für dich! Diese Karotte ist verzaubert“, sagte er etwas außer Atem. „Ein wunderschönes Licht floss durch diesen Garten und heute habe ich sogar vier Karotten gefunden, aber ich konnte ja nicht alle auf einmal mitnehmen, deshalb habe ich eine schon dort gegessen. Ich werde gleich wieder loslaufen!“

Der ältere Hase schmunzelte über das ganze Gesicht und blickte den jungen Hasen liebevoll an. „Ich habe das Licht auch gesehen. Das ist der Zauber von Weihnachten, doch so habe ich ihn noch nie erlebt. Ich danke dir.“


Der Weihnachtsstern leuchtete in dieser Nacht unzählige Male besonders hell und freute sich, dass er so strahlen konnte. Und er wünschte sich, dass an jedem Tag Weihnachten wäre.




© Copyright 2024 Daniela Böhm








 


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