Die etwas andere Geschichte vom Osterhasen
Es war spät im März und das Osterfest, das die Menschen so gerne feierten, rückte immer näher. Der Frühling hatte das Land bereits mit bunten Pinselstrichen angemalt, Bienen und Hummeln flogen emsig über Wiesen, auf denen Schlüsselblumen, Duftveilchen, Löwenzahn und Gänseblümchen ihre Köpfchen freudig der Sonne entgegenstreckten. Wie sehr hatten sie sich nach dem Frühling gesehnt, um endlich das dunkle und kalte Erdreich zu verlassen, mit ihrem Traum vom Blühen, der nun zur Wirklichkeit geworden war. Die Vögel sangen freudig ihre Lieder, um die schönste Jahreszeit jeden Morgen neu zu begrüßen und die ersten Schmetterlinge flogen um die Wette oder tanzten spielerisch mit den Frühlingswinden.
Auch die anderen Tiere waren froh, dass Väterchen Frost endlich fort war. Wühlmäuse huschten über Wiesen und verschwanden eilig in ihren Verstecken, wenn ein Raubvogel über ihnen kreiste oder Gevatter Fuchs unterwegs war. Die Rehe freuten sich über das zarte Grün, das an Bäumen und Sträuchern sprießte, Wiesel und Marder flitzten geschäftig durch das Gestrüpp und die Häsinnen kümmerten sich um ihren ersten Nachwuchs in diesem Jahr.
Es war genau zu dieser Zeit, in der die alljährlichen Versammlungen der Hasen für das Osterfest stattfanden, auch in dem oberbayerischen Wäldchen in der Nähe eines malerischen Dorfes. An einem Sonntagnachmittag trafen sich zwanzig Hasen auf einer Lichtung, um darüber abzustimmen, wer in diesem Jahr welche Aufgaben übernehmen würde. Alle Altersgruppen waren vertreten, schließlich sollte es demokratisch zugehen, wobei ein Älterer immer den Vorsitz führte. In diesem Jahr war es Luitpold, ein stattlicher Hasenmann, durch dessen erdbraunes Fell schon viele weiße Haare hindurchblitzten, aber er war stolz, dass er es immer noch schaffte, zwei Meter hochzuspringen. Luitpold blicke auf ein erfülltes Hasenleben mit unzähligen Nachkommen zurück, deren Namen er meistens vergaß und die er freilich nicht alle kannte.
Als die letzten Nachzügler endlich eintrafen, waren die besten Plätze auf der sonnenüberfluteten Lichtung bereits alle belegt.
Schließlich klopfte Luitpold dreimal energisch mit seinen Hinterpfoten, erklärte die Versammlung kurz und knapp für eröffnet und kratzte sich dann an seinem linken Löffel.
„Wie viele unter euch wollen in diesem Jahr der Osterhase sein?“, fragte er ohne Umschweife. Es war immer dieselbe erste Frage und zugleich die schwierigste, denn die Anzahl der Freiwilligen hielt sich meist in Grenzen.
Luitpold blickte erwartungsvoll in die Runde, in der selbstverständlich nur männliche Artgenossen anwesend waren, denn eine Osterhäsin hatte es in der Geschichte noch nie gegeben. Manche Dinge ändern sich eben nicht, auch wenn es bereits das 21. Jahrhundert war. Einige Hasen dösten vor sich hin, andere schienen die Frage geflissentlich zu ignorieren und verspeisten frischen Klee, drei jüngere tuschelten miteinander.
Luitpold wurde etwas ungehalten. Ein bisschen mehr Respekt und Aufmerksamkeit hatte er sich schon erwartet, allein aufgrund seines Alters. Er räusperte sich laut und klopfte energisch mit den Hinterpfoten.
„Wenn es keine Freiwilligen gibt, entscheidet das Zufallsprinzip“, warf er drohend in diese unfreiwillige Runde.
Die älteren Hasen zuckten zusammen. Jeder wusste, was das bedeutete. Zwei Eichhörnchen saßen wie jedes Jahr wurfbereit auf dem Ast einer Kiefer, unter der Luitpold jetzt nervös von einer Hinterpfote auf die andere trat. Es war immer ein Heidenspaß, die Hasen mit Nüssen zu bewerfen. Wer getroffen wurde, musste für ein paar Tage zum Osterhasen werden, ob er nun wollte oder nicht.
Ein älterer Hase wollte gerade schüchtern die rechte Vorderpfote heben, als einer aus der Gruppe der drei jüngeren laut sagte: „Das ist doch alles Unsinn, wer glaubt denn heutzutage noch an den Osterhasen?“
Luitpold rümpfte seine Nase und rang nach Fassung. „Die Kinder glauben an den Osterhasen“, entgegnete er und fügte hinzu: „Schon immer!“
„Das stimmt doch gar nicht“, erwiderte der junge Hase, den seine Freunde Ferdi nannten. Eigentlich hieß er Ferdinand, aber das passte nicht zu ihm – es klang zu vornehm. Er war ungestüm, dabei klug und gewieft; ein junger Wilder, der den Lauf des Lebens nicht als gegeben hinnahm.
Luitpold kannte Ferdis Mutter, er hatte einmal ein kurzes Techtelmechtel mit ihr gehabt. Daran erinnerte er sich jetzt mit einigem Unbehagen und fuhr sich nervös über seine zuckende Nase. War Ferdi vielleicht sein Sohn? Aber nein, das konnte nicht sein, beruhigte er sich, seine Söhne waren anders und bestimmt nicht so aufmüpfig.
Die Eichhörnchen begannen sich zu langweilen. Sie hatten gedacht, der Spaß würde gleich losgehen.
„Natürlich stimmt das!“, polterte Luitpold jetzt.
„Tut es nicht!“, konterte Ferdi. „Irgendwelche Eltern haben ihren Kindern irgendwann mal das Märchen vom Osterhasen erzählt, und als die ersten Kinder erwachsen wurden, gaben sie es an ihre Kinder weiter. So nahm die Geschichte ihren Lauf, und weil wir Hasen gutmütig und freundlich sind, haben wir diesen Unsinn mitgemacht, obwohl es genügend Menschen gibt, die uns nach dem Leben trachten. Sie haben das gar nicht verdient!“
Ein Hase in mittleren Jahren lenkte ein. „Nun ja, aber auch wenn es so war: Die Kinder haben ihre Freude am Osterhasen und …“
Sepp, der beste Freund von Ferdi, fiel ihm ins Wort. „Diese ganze Osterhasengeschichte ist einfach nicht mehr zeitgemäß! Sie ist überholt und eine veraltete Tradition.“
Luitpold zuckte zusammen. Das wurde ja immer schlimmer! Warum musste ausgerechnet er in diesem Jahr die Versammlung leiten? Er sehnte sich nach seiner Sasse und einer Karotte, um seine Nerven zu beruhigen.
„Genau“, rief Ferdi kämpferisch „Mit veralteten Traditionen muss man Schluss machen. Es lebe die Revolution!“
Nun wurde es laut und ungemütlich auf der Lichtung. Einige ältere Hasen stellten ihre Löffel senkrecht nach oben und blickten entsetzt zu Ferdi und Sepp. Ein paar jüngere hüpften aufgeregt hin und her, andere steckten fassungslos die Köpfe zusammen und diskutierten das offensichtliche Revoluzzertum. Die Eichhörnchen überlegten, ob sie nicht einfach ihre Nüsse abfeuern sollten, schließlich ging es ja um das Vergnügen. Zumindest war diese Versammlung nicht langweilig.
„Jetzt reicht es aber! Ruhe!“, brüllte Luitpold und begann mit seinen Hinterpfoten so laut zu trommeln wie er nur konnte.
„Was fällt euch ein, ihr ungezogenen Bengel?“, fragte er entrüstet, als wieder ein wenig Ruhe eingekehrt war. Nie und nimmer war Ferdi sein Sohn! Der Gedanke beruhigte ihn augenblicklich.
Ferdi setzte sich selbstbewusst auf seine Hinterpfoten und blicke Luitpold herausfordernd an. „Von was ernährst du dich?“
Luitpold sah ihn verdattert an. Was sollte diese Frage?
„Von was denn schon? Das weißt du doch ganz genau!“
„Du isst also keine Eier?“, fragte Ferdi forsch.
„Selbstverständlich nicht!“
Ferdi hatte jetzt ein gewieftes Grinsen im Gesicht. „So wie wir alle, nicht wahr?“, meinte er und blickte herausfordernd um sich. „Aber zu Ostern nehmen wir den Hühnern ihre Eier weg! Findet ihr das richtig?“
Einige Hasen blickten betreten zu Boden, andere rollten die Augen, die jüngeren wiederum sahen Ferdi zustimmend an und nickten.
Luitpold hatte es die Sprache verschlagen und er begann sich hektisch zu putzen.
„Es ist doch nur einmal im Jahr“, stammelte er endlich.
„Trotzdem ist es ein Unrecht“, erwiderte Ferdi.
Ein Hase in seinen besten Jahren meldete sich zu Wort. Gustl hieß er, und seine Freunde schätzten ihn wegen seiner ruhigen und besonnenen Art. „Ich finde, wir sollten durchaus darüber nachdenken. Im vergangenen Jahr war es meine Aufgabe, den Hühnern ihre Eier wegzunehmen. Sie waren darüber alles andere als erfreut!“
„Seht ihr?“, meinte Ferdi und sah die anderen an. „Das muss aufhören!“
„Aber die Kinder wären doch so enttäuscht!“, warf der ältere Hase, der sich anfangs freiwillig melden wollte, schüchtern ein.
„Ich habe eine Idee“, sagte Gustl. „Wir bringen ihnen zum Osterfest Karotten! Sie sind gesund und schmackhaft, man muss sie niemandem wegnehmen und kann sie immer verspeisen.“
Einige Hasen mussten lachen, andere schüttelten ungläubig den Kopf.
„Das werden die Menschen nicht verstehen“, entgegnete Luitpold, dessen Selbstwertgefühl als Vorsitzender mittlerweile auf ein Mindestmaß geschrumpft war, auch wenn er versuchte, Haltung zu bewahren.
„Dann verstehen sie es eben nicht“, meinte Sepp gelassen. „Aber die Zeiten ändern sich, vielleicht verstehen sie es irgendwann.“
„Ich stimme dir zu“, antwortete Gustl. „Eine rein pflanzliche Ernährung hat viele Vorteile und vielleicht denkt der eine oder andere Mensch darüber nach, wenn es an Ostern statt Eiern Karotten gibt. Das passt doch eigentlich auch viel besser, Karotten gehören schließlich zu unseren Lieblingsspeisen.“
„Ein guter Vorschlag“, pflichtete ihm Ferdi bei. „Trotzdem werde ich nicht den Osterhasen spielen“, fügte er hinzu und sah Luitpold trotzig an.
Die Eichhörnchen spitzten die Ohren. Vielleicht konnten sie die Hasen heute doch noch mit Nüssen bewerfen.
Luitpold räusperte sich und würdigte Ferdi dabei keines Blickes. „Wir halten uns an demokratische Prinzipien und werden darüber abstimmen! Wer ist dafür, dass wir Karotten anstatt Eiern zu den Menschen bringen?“
Tatsächlich hob eine entschiedene Mehrheit die rechte Vorderpfote.
„Und wer ist dafür, dass das Märchen vom Osterhasen ein Ende findet?“, rief Ferdi forsch in die Runde.
„Die Fragen für eine Abstimmung stelle ich, du aufmüpfiger Kerl!“, schnaubte Luitpold.
„Bitteschön“, erwiderte Ferdi gelassen, der sich von ihm nicht einschüchtern ließ.
„Also, wer ist dafür, dass es keinen Osterhasen mehr gibt?“, fragte Luitpold.
Genau die Hälfte der anwesenden Hasen hob die linke Vorderpfote, was ein Nein bedeutete, die andere Hälfte stimmte mit der rechten dafür.
„Dann werden wir gemäß unserer Vorschriften in einem Monat nochmals darüber abstimmen.“ Luitpold räusperte sich. „Und wer von euch bringt nun als Osterhase die Karotten zu den Menschen? Wie ihr wisst, brauchen wir drei Freiwillige.“
Auf der Lichtung wurde es mucksmäuschenstill. Alle blickten umher, um zu sehen, ob jemand seine Pfote hob.
Nachdem Luitpold einige Augenblicke gewartet hatte, sah er nach oben zur Kiefer und nickte den Eichhörnchen zu.
‚Na endlich‘, dachten sie freudig und feuerten ihre Nüsse auf die Hasen ab.
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©Daniela Böhm 2024
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